Fahrradtour 26.7. bis 6.8.1993 Polen-Ukraine-Ungarn
Martin Löwenstein SJ
Montag
- Kurz nach sechs bereits läuft der Zug auf dem voll im
Umbau befindlichen Krakauer Hauptbahnhof ein, mit dem Christian
über Nacht von der Isar gekommen ist. Ich selbst war schon
einen Tag früher von einem einwöchigem Treffen europäischer
Jesuiten in Tschenstochau nach Krakau gekommen. Ausgangs- und
Endpunkt von Christians Zugfahrt dürften eines miteinander
gemein haben: beide Städte fühlen sich als "heimliche
Hauptstadt" ihrer Ländern; dass Südpolen durch
die Österreichische und Nordpolen durch die Preußische
Besatzung geprägt worden sind, dürfte diese Gemeinsamkeit
Krakaus mit der bayerischen Landeshauptstadt nur verstärken.
- Von der Stadt Krakau selbst sei nur das Judenviertel erwähnt.
Den Geist der jüdischen Gemeinde vermeint man in den Gassen
noch zu spüren; ein jüdisches Café gibt es noch.
Die alte Synagoge existiert hingegen nur noch als Museum. Ein
wenig weiter kann man jedoch eine kleine Synagoge mit dazugehörigem
Friedhof besichtigen, die heute das Zentrum der kleinen, etwa
dreihundertköpfigen Gemeinde in Krakau ist. Friedhof und
Synagoge: wohl beides, weil die Gemeinde zum Aussterben verdammt
ist, nachdem die letzten jüngern Juden unter dem Eindruck
des Antisemitismus der Gomulka-Zeit das Land verlassen haben.
- Die Spur der Verwüstung, die der deutsche Rassenwahn
über die reiche Kultur der europäischen Juden durch
den Kontinent gezogen hat, wird uns noch weiter begleiten.
- Am frühen Nachmittag führt uns eine befahrene Ausfallstraße
gen Osten aus Krakau heraus. Links und rechts Siedlungen im Stil
von Nowa Huta. Je mehr wir uns jedoch von der Stadt entfernen,
desto mehr prägt ländlicher Siedlungsstil die Landschaft.
Nur die zahlreichen Busse mit Arbeitern, die von der Frühschicht
heimkehren, erinnern noch an die Industrie-Region, die hinter
uns liegt.
- Ein Polnisch-Wörterbuch und ein gewisses schauspielerisches
Bemühen hilft uns, mit drei Saufbrüdern vor einer Kneipe
in einem kleinen Bergdörfchen Kontakt aufzunehmen. Ob das
der geschickteste Zugang zur einheimischen Bevölkerung war,
sei dahingestellt. Jedenfalls vermittelten die drei uns nach
langwieriger Erklärung unseres Begehrens an eine vorbeigehende
ältere Frau, die offensichtlich in ihrer Familie genügend
Einfluß hatte, um zu erreichen, dass wir auf dem Heu des
Hofes übernachten konnten.
Dienstag
- Was seit Krakau begonnen hat wird immer deutlicher erkennbar.
Auch die Nordkaparten sind ein Gebirge, das einen solchen Namen
verdient hat. Allerdings fahren wir an den höchsten Gipfeln
östlich vorbei, die 50 km weiter westlich um Zakopane ein
Zentrum des polnischen Tourismus mit Gipfeln bis zu 2500 m
bilden. Wir hingegen klettern (wegen einer geringfügigen
Abweichung von der geplant-gewünschten Route) nur auf knapp
900 m. Auf dieser Höhe einen sportlich ausgerüsteten
Radler zu treffen, ist in Polen immer noch ungewöhnlich.
Wie sich in einer auf italienisch geführten Konversation
herausstellte, war es ein polnischer, mit mir gleichalter Salesianer,
der dort in den Bergen eine Pfarrstelle hat und sich im Sommer
mit dem Rad fit hält.
- Nach einer angenehmen Route durch das sich schlängelnde
Tal des Poprad überquert man in Piwniczna die Grenze. Zum
ersten mal werden unsere Pässe genauer untersucht und bestempelt.
Ansonsten herrscht an dem wenig benutzten Grenzübergang
in die Slowakei eine entspannte Atmosphäre, und die Kollegialität
der polnischen und slowakischen Beamten könnte an einer
westlichen Grenze nicht besser sein.
- Dahinter führt die Straße bergauf. Auf halber
Höhe stoßen wir auf ein Holzkirchlein, in dem eine
kleine Schar zur Messe versammelt ist. Auffällig die zahlreiche
Jugend und das Alter - völlig fehlend der Mittelbau.
Eine Altersstruktur, die hier andere Gründe haben dürfte
als im Westen. Der Unterschied zu Polen wird deutlich, als nach
der Messe der Bischof, der sie zelebrierte, im einfachen Anzug
seinen Kleinwagen besteigt und noch einige Jugendliche mitnimmt.
Hier findet sich keine triumphalistische Kirche, sondern die
Gemeinschaft derer, die bittere Verfolgung und Untergrund zusammengeschweißt
hat. Der Unterschied zu Polen liegt wohl in einem völlig
verschiedenen Verständnis dessen, was Hierarchie bedeutet.
- Die Straße steigt noch bis gegen 750 m und hinter
der Höhe öffnet sich der Blick auf das weite Tal des
oberen Popard. Unweit der Straße lädt ein großes
Felsmassiv unwiderstehlich dazu ein, den Tag mit einer Heiligen
Messe vor dieser Kulisse und einem leckeren Abendessen vom Spirituskocher
zu beschließen.
Mittwoch
- Was zumindest mir die Slowakei gegenüber Polen unmittelbar
sympathisch macht, ist die geschlossene Siedlungsform. Während
der Teil Polens, den wir gesehen haben, fast völlig zersiedelt
ist und keine geschlossenen Orts-Kerne kennt, beginnt direkt
hinter der Grenze das Straßendorf vorzuherrschen; entlang
einer Durchgangsstraße stehen Häuser, die hinter einem
kleinen Vorgarten zur Straße hin einen Wohnbereich haben
und jeweils dahinter Scheune und/oder Stallungen und ein kleines
Feld. Diese Siedlungsform, fast unverändert, ist der gemeinsame
Nenner aller Dörfer, die wir auch in der Ukraine, Ungarn
und selbst im Burgenland bis Wien hin durchquert haben.
- Dunkelhäutige Menschen, im Familiengruppen umherziehend,
sind etwas, was uns auf dem ganzen Weg weiteren begleiteten wird.
Fast überall sind sie, und doch nirgendwo zuhause. In den
meisten Ländern wurden sie während der kommunistischen
Zeit verfolgt, nachdem zuvor bereits die Deutschen versucht hatten,
wo immer sie greifbar waren, sie erbarmungslos und zielgerichtet
auszurotten. Wie die Sinti und Roma in das werdende neue Europa
passen, wie sie die nächsten Modernisierungswellen überleben
werden ist mir, offen gestanden, ein Rätsel. Hier sind Menschen
die oft in bitterster Armut und am Rande der Staaten leben -
und niemand, soweit ich weiß, hat eine Antwort, wie diese
alten Wandervölker in ihrer kulturellen Identität bewahrt
werden können.
- Die nette und direkte Art, mit der ein kleiner Roma-Junge
auf dem Marktplatz von Vranov na Topl'ou mit uns Kontakt aufnahm,
unbeschadet vollständiger Sprachbarrieren, gehört zu
den schönen und unbeschwerten Begegnungen mit diesem Volk.
- Erwähnung verdient Presov, ein größerer Ort
in der nordöstlichen Slowakei. Nachdem wir unsere Räder
samt Gepäck an der Pforte einer orthodoxen Kirche deponieren
konnten, hatten wir Zeit und Muße, dieses kleine Städtchen
zu erwandern. Für uns wurde hier erstmalig sichtbar, was
in der Ukraine und Ungarn allgegenwärtig ist: die religiöse
und konfessionelle Vielfalt - aus der nur das mosaische
Bekenntnis herausgebrannt und zum Dasein als musealem Relikt
verdammt wurde. Presov ist eine erstaunlich lebendiges und offensichtlich
als inländisches Touristenziel reich gewordenes Städtchen,
das seine geschlossene Anlage längs einer vielbevölkerten
Hauptstraße einer Funktion als k.u.k. Provinzverwaltung
verdanken mag.
Donnerstag
- Siebzig Kilometer weiter stehen wir erneut an eine Grenze,
diesmal weit weniger unkompliziert als beim Übergang aus
Polen in die Slowakei. Zwar ist es beruhigend, an der Form der
Grenzabwicklung keine Anzeichen dafür zu sehen, dass eine
Auflösung der staatlichen Strukturen der Ukraine zu Bestechlichkeiten
führen mag. Im Gegenteil: wir werden zwar unsäglich
bürokratisch und mit einem regulär recht teurem Visum
aber doch ordnungsgemäß und alles in allem recht freundlich
behandelt. Dass selbst die Durchreise mit dem Fahrrad, wo man
sich an allen Autoschlangen vorbeidrücken kann, dann doch
noch zwei bis drei Stunden dauert ist mit Gleichmut zu ertragen.
Wenn Christian nicht beharrlich gewesen wäre, hätte
mich bereits viel früher (schon durch die Visum-Gebühren)
schrecken lassen.
- Lediglich der agil-adrette ostdeutsche Frühpensionär,
im einzigen Wagen, der nicht nur wie viele andere außen
ein deutsches Nummernschild führt, sondern auch einen des
Deutschen mächtigen Insassen befördert, ermöglicht
uns eine kommunikative Bewältigung der Situation. Dass der
Herr selber seine Stasi-Vergangenheit im "Ost-West-Handel"
nutzt ist nur meine Vermutung - aber bei der Gewandtheit
der Bewegung inmitten all der Ex-Rote-Armee-Uniformen ein naheliegender
Schluss.
- Nachdem wir die Grenze passiert haben beginnt fast unmittelbar
die große Stadt Uzgorod in unverkennbar sowjetischem Gepräge.
Gegenüber der Slowakei ist der Unterschied im Straßenbild
augenfällig, aber doch nicht erschlagend.
- Vor dem internationalen "Transkarpatischen Hotel"
werden wir von zwei jungen Männern aufgelesen, die sich
ihr Geld mit deutschen Touristen verdienen: Da wir die einzigen
dieser Art weit und breit (und die wohl die ersten mit dem Rad)
sind, kann dies nicht viel sein. Einer der beiden ist Alex, ein
Student der Geschichte im dritten Jahr. Sein Hunger-Stipendium
versucht er mit Fremdenführungen aufzufrischen. Nachdem
sich (mein) anfängliches Misstrauen als völlig unbegründet
herausgestellt hat, führt uns Alex zu einem angenehmen und
sehr günstigen Hotel, wo wir das Gepäck (und später
auch die Räder) im Zimmer einschließen können.
Anschließend jagt Alex mit seinem Rad in atemberaubenden
Tempo und unter Missachtung schier jeglicher Verkehrsregel durch
das Gewühl von Uzgorod, verschafft uns mithilfe kleinerer
Trinkgelder Zugang zu eigentlich am Spätnachmittag bereits
geschlossenen Sehenswürdigkeiten und bringt uns zum Abendessen
in ein Restaurant, das erste Haus am Platze. Das Menü dürfte
der Ausgangspunkt meiner Verdauungsprobleme sein, deren spannende
Fortsetzung sich Tag für Tat in diesem Bericht anfügen
ließe. Da Selbiges aber nur bedingt unterhaltsam ist, will
ich es dem geneigten Leser ersparen.
- Nirgendwo denn bei dem kurzen Abstecher in die Ukraine ist
uns so deutlich geworden, wie sehr die Umwälzungen die Älteren
nicht nur entmachtet, sondern häufig völlig verarmt
haben, während einige Junge es geschafft haben, mit Anfang
Zwanzig eine kleine Schicht der Neureichen zu bilden, die aus
der Situation Kapital schlägt. Deutlich wurde das beim Blick
auf die wenigen anderen Gäste im Restaurant: Junge, anscheinend
einheimische Männer und Frauen, genau die Typen, die man
auch in den Westautos auf der Straße sieht und die man
anderswo, vielleicht auch hier, für Zuhälter halten
mag.
- Im Hotel haben wir sehr gut und sauber geschlafen. Das dortselbst
Schlepperbanden ihre Kunden für die Fahrt nach Deutschland
aufnehmen, hat dem keinen Abbruch getan. Dennoch ist die aufgeregte
Freude bedrückend, mit der ein junger Tamile um den Mercedes
tanzt; der langhaarig-beringte Fahrer hat ihm wohl Hunderte harter
Dollar abgeknöpft, um ihn nach Deutschland zu schleusen -
ohne ihm zu sagen, was ihn dort erwartet. Daneben steht ein dunkelhäutiger
Mazedonier, der das Geld nicht mehr aufbringen kann, um sich
zu seiner Familie nach Düsseldorf schmuggeln zu lassen.
Freitag
- Dass wir eine Stunde länger geschlafen haben als geplant,
haben wir zu verdanken, dass das Frühstück im Hotel
ausfiel. Vielleicht haben wir nicht allzu viel verpasst. Ursächlich
war jedenfalls, dass wir die Zeitumstellung vertrödelt hatten.
Gerade noch rechtzeitig trafen wir Alex am vereinbarten Treffpunkt.
Nach einer Einweisung in die Geheimnisse des ukrainischen Postwesens
haben wir die Postkarten-Vorräte des Kiosks im internationalen
Hotel aufgekauft und harren nun der Meldungen, ob die Sendungen
wohl ihren Weg finden.
- Bevor wir Uzgorod verlassen, machen wir noch einen Abstecher
in das Atelier von Alex' Vater, der als Maler von Landschaften
und Bauernszenen versucht, sein Brot zu verdienen. Zu UdSSR-Zeiten
war er bezahlter Künstler; jetzt muß er jede Gelegenheit
nutzen, seine recht netten Bilder zu verkaufen. Der Stil ist
wohl der der lokalen transkarpatischen Tradition, auch wenn Einflüsse
aus dem sowjetischen Realismus unverkennbar bleiben.
- Gegenüber Uzgorod hat die zweite von uns besuchte Ukrainische
Stadt, Mukacevo, nicht viel zu bieten, zumal der Zustand der
Straßen bei Christians Rad die Serie nicht weniger Platten
eröffnet.
Samstag
- Vom folgenden Tag gibt es außer landschaftlichen Eindrücken
nicht viel zu berichten. Am Vormittag überqueren wir problemlos
und schnell die Grenze nach Ungarn und fallen aus einer Welt
in die andere. Mir war nicht bewusst, wie sehr Ungarn bereits
eine Entwicklung in Richtung Westen durchgemacht hat. Man muß
sich oft nachgerade anstrengend, um sich zu erinnern, dass diese
Städte und Dörfer vor kurzem noch zum Comecon gehörten.
Ostdeutschland nimmt sich demgegenüber oft ärmlich
aus. Beeindruckend ist nicht zuletzt der hohe Standard des öffentlichen
Bereiches, die Wasserversorgung, die gute Straßenqualität,
das hervorragende Telefonnetz bis hin zur Stadtreinigung.
- Die eigentliche Grenze zwischen Ost und West verläuft
heute hier und wehe, wenn es nicht gelingt, in überschaubarer
Zeit den Menschen jenseits dieser Grenze Hoffnung auf eine würdige
Zukunft zu geben!
- Kurz vor der Grenze, übrigens, auf ukrainischer Seite,
überqueren wir noch eine Bahnlinie. Wie wir in Szeged erfahren
werden, ist dies kein Zufall. Das königliche Ungarn hatte
neben den sternförmig auf Budapest zulaufendenden Bahnen
eine außen durch das Gebiet umlaufende Bahnlinie gekannt,
an der mehrere wichtig Städte lagen. Als nach dem Ersten
Weltkrieg die Sieger Ungarn zerstückelten zogen sie die
neue Grenze genau so, dass diese Ring-Bahn außerhalb der
neuen Grenzen blieb. Damals schickten die britischen Inseln keine
EG-Vermittler sondern Sieger, um die kontinentalen Grenzen neu
zu ziehen.
Sonntag
- Die Nacht hat mit dem erstmalig aufkommenden starken Wind
die Mücken vertrieben. Erst nach dem Frühstück,
dann aber prompt und heftig, setzt ein Regen ein, der zwei Stunden
lang anhält. Während wir in Kisvárda mit einer
unierten Gemeinde den Sonntag feiern, klart es langsam auf und
trotz einiger Regenschlieren am letzten Tag sollte dies der einzige
wirkliche Regen der ganzen Tour bleiben.
- Der Wind hingegen wird für die verbleibenden Tage unser
Begleiter bleiben. Zunächst macht er sich in höchst
angenehmer Weise bemerkbar: Brav aus Nordosten pustend läßt
er das sonst eher trübsinnige Flachlandfahren zu einem der
schönsten Teile der Fahrt werden. Ungarn ist nämlich
flach. Landschaft hat es dort noch und nöcher. Aber Flachland
kann auf die Nerven gehen, wenn man jeweils schon sieht, wo man
Stunden später erst ankommt. Christian als gebürtigem
Hamburger mag dies anders gegangen sein. Auch seine nostalgischen
Erinnerungen an eine naßkalte Brise an den Landungsbrücken
konnte mir die trockene Hitze der Pusta nicht madig machen.
- Höhepunkt des Tages war Debrecen, die wichtigste Stadt
im Nordosten Ungarns. Hier hat man ganz und gar das Gefühl,
mitten in einer Westeuropäischen Stadt zu sein. Und selbst
der dem Radfahrer so willkommene MacDonald's hat sich dort niedergelassen
und lädt dazu ein, den hervorragenden Standard seiner Sanitäranlagen
(aber auch nicht mehr) zu bewundern - und zu nutzen.
Montag
- Mit 186 km war dies mit Abstand der Tag mit den meisten Kilometern.
Da die Strecke weitgehend durch flaches Land und immer wieder
nette kleine Dörfer führte, war die Reisegeschwindigkeit,
zu der uns der Rückenwind verführte, kein Verlust an
Erlebnis der Schönheit des Landes.
- Lediglich auf der Etappe von Szentes bis Hódmezövásárhely
(Betonung immer auf der ersten Silbe!!) am frühen Abend
war für mir und wohl auch Christian bereits Erschöpfung
anzumerken. Wie wohltuend dann ein "Büfet" am
Ortseingang mit einem kühlen ungarischen Bier sein kann
mag der Leser nur zu erahnen. Auf jeden Fall verschafften wir
uns so die Kraft für die letzten 24 km bis nach Szeged.
- Szeged, Universitätsstadt und kulturelles Zentrum des
Südostens Ungarns liegt nur zehn Kilometer von der serbischen
Grenze entfernt - die zu übertreten für uns keine
große Versuchung war. Dort kamen wir bei den Mitbrüdern
aus dem Jesuitenorden unter.
Dienstag
- Den folgenden Tag haben wir komplett in Szeged verbracht
und uns die zahlreichen Sehenswürdigkeiten des Ortes erwandert.
- Auch hier wieder eine prachtvolle Synagoge, die Ende der
zwanziger Jahre fertig geworden ist. Die verbliebene jüdische
Gemeinde hingegen versammelt sich, gerademal die zum Gebet nötigen
zehn Köpfe zählend, in einem kleinen Haus der Stadt.
Wie ist es nur möglich, die so reiche und gesegnete Kultur
auf einem ganzen Kontinent auszurotten, ja eine solche Vernichtung
auch nur zu denken?
Mittwoch
- Pläne müssen manchmal geändert werden. Wir
hatten vor, an diesem sonnigen Tag bis vor Budapest mit dem Rad
zu fahren. Leider ist dazu die Nationalstraße recht alternativlos,
weil man in Richtung Budapest auf kleinen Straßen nur immer
wieder "aufkreuzen" könnte und selbst dafür
immer wieder auf die große Straße müßte.
Die Nationalstraße ist, wie leider einige in Ungarn, für
Radfahrer gesperrt und unsere ungarischen Freunde hatten uns
gewarnt, dass der viele Verkehr auf der engen Straße unser
Vorhaben gefährlich werden ließe. Nun Verbote müssen
nicht hindern, und Männer lassen sich durch Gefahren der
Straße nicht von wagemutigen Plänen abhalten. Aber
der dichte Verkehr und die ständigen Lkws, die nur knapp
an einem vorbeirauschen, weil die Straße so eng ist, verderben
einem dann halt doch den Spass an der Sache; Verbote kann man
übertreten und Gefahren bezwingen - aber wo der Spass
aufhört, da hört er eben auf. Daher entschlossen wir
uns nach gut dreißig Kilometern den Versuch abzubrechen,
demontierten unsere Räder auf Gepäck-Größe
und stiegen auf einen sehr bequemen und schnelle Zug nach Budapest
um, wo wir noch recht früh am Tag angelangten, da wir zu
nachtschlafender Zeit von Szeged aufgebrochen waren.
- In Budapest suchten wir zunächst die örtliche Jesuitenresidenz
auf, um dem jeglicher Fremdsprache unkundigen Pfortenbruder klarzumachen,
dass wir die Räder samt Gepäck gerne bis zum späten
Nachmittag bei ihm lassen würden. Es ist immer wieder erstaunlich,
wie ausgedehnt eine Konversation sein kann, ohne dass eine einziges
Wort beiden Teilnehmern gemeinsam ist. Ein kurz darauf erscheinender
weiterer Jesuit, der deutsch sprach, konnte uns zudem die Sicherheit
vermitteln, dass der Pfortenbruder unserer Gestik genau den Sinn
beigelegt hatte, den wir auszudrücken uns redlich bemühten.
- Budapest wäre sicher mehr als einen Tag wert. Aber große
Städte sind nichts für Radfahrer. Geblieben ist der
feste Vorsatz, zurückzukommen. - Am Abend fuhren wir
dann noch ein bis zwei Stündchen die Donaus aufwärts,
um im vielbevölkerten Donauknie unser Lager aufzuschlagen.
Die Nacht sollte allerdings eine Katastrophe werden: ich hätte
nie gedacht, dass es so viele Mücken geben kann. Fest in
die Schlafsäcke gehüllt, die sich wegen der hohen Außentemperaturen
daraufhin in wahre Badewannen aus Schweiß verwandelten,
versuchten wir den den Mücken zugänglichen Körperbereich
zu minimieren, alle erdenklichen Schutzvorrichtungen zu aktivieren:
vergeblich. Ich weiß nicht, wer glücklicher zu schätzen
ist, Christian, der irgendwann in einen Erschöpfungsschlaf
gesunken ist, oder ich, der ich die ganze Nacht gekämpft
hatte. Denn während ich am nächsten Morgen mit wenigen
Dutzend Stichen und dreißig vernichteten Gegnern allein
innerhalb des Schlafsackes aufwarten konnte, hat Christian den
akademischen Streit um die Frage entschieden, ob es so etwas
wie eine natürliche Grenze für die Stechhäufigkeit
gibt. Es könnte ja sein, dass Mückenstiche von den
Viechern nur nebeneinander gesetzt werden. Sie werden nicht.
Der wie von Pestbeulen verunstaltete Körperteil meines Kompagnions,
der am Vortag noch als Kopf anzusprechen gewesen wäre, hat
mutmaßlich Liter frischen Blutes durch kleine Rüsselchen
an gierige kleine Tierchen weitergeleitet, die, aus mir unbekannten
Gründen, zu allem Überfluß noch irgendeine giftige
Substanz ihrem Gönner unter die Haut spritzen. Gute Nacht.
Donnerstag
- Der nächste Tag, mit zwei Nickerchen zwischendurch gesegnet,
hat die Schrecken der Nacht bald vergessen gemacht. Zuviel Sehenswertes
gibt es entlang der Ufer: von den Ruinen, die heute noch eine
milde Ahnung von der gewaltigen Festung Visegrád geben,
bis hin zur gewaltigen Basilika von Esztergom. Als Tip für
den beschaulichen Besucher dieser Stadt, die zu Recht als eine
der Perlen Ungarns gilt, möge der Hügel gelten, der
gegenüber dem Palast-Hügel liegt. Hier kann man vor
einem kleinen Kapellchen sitzen und ungestört von den sonst
allgegenwärtigen Touristen-Scharen nicht nur den Blick auf
die Stadt, sondern auch den auf die weite Ebene der angrenzenden
Slowakei genießen.
Freitag
- Am letzten Tag holte uns der Wind, den wir so lange genossen
hatten, endgültig ein. Hatten wir erst noch gehofft, noch
ein ganzes Stück in Österreich der Donau entlang gen
Heimat fahren zu können, setzte noch in Ungarn ein solcher
Gegenwind ein, der sich jenseits der Grenze zudem mit Strichregen
vermischte, dass jegliche Hoffnung auf das Erreichen etwa von
Linz oder gar Passau ins Reich der Phantasie verwiesen werden
mußte. Um nicht zu guter Letzt irgendwo in der Walachei
die Tour abbrechen zu müssen, fuhren wir lieber in Wien
ein, um dort nach einem opulenten Abendmahl im Restaurant mit
einem guten Glas Bier die Tour zu beschließen und uns auf
den Nachtzug nach München bzw. Köln zu verteilen.
|