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Fahrradtour 26.7. bis 6.8.1993 Polen-Ukraine-Ungarn

Martin Löwenstein SJ

Montag

  • Kurz nach sechs bereits läuft der Zug auf dem voll im Umbau befindlichen Krakauer Hauptbahnhof ein, mit dem Christian über Nacht von der Isar gekommen ist. Ich selbst war schon einen Tag früher von einem einwöchigem Treffen europäischer Jesuiten in Tschenstochau nach Krakau gekommen. Ausgangs- und Endpunkt von Christians Zugfahrt dürften eines miteinander gemein haben: beide Städte fühlen sich als "heimliche Hauptstadt" ihrer Ländern; dass Südpolen durch die Österreichische und Nordpolen durch die Preußische Besatzung geprägt worden sind, dürfte diese Gemeinsamkeit Krakaus mit der bayerischen Landeshauptstadt nur verstärken.
  • Von der Stadt Krakau selbst sei nur das Judenviertel erwähnt. Den Geist der jüdischen Gemeinde vermeint man in den Gassen noch zu spüren; ein jüdisches Café gibt es noch. Die alte Synagoge existiert hingegen nur noch als Museum. Ein wenig weiter kann man jedoch eine kleine Synagoge mit dazugehörigem Friedhof besichtigen, die heute das Zentrum der kleinen, etwa dreihundertköpfigen Gemeinde in Krakau ist. Friedhof und Synagoge: wohl beides, weil die Gemeinde zum Aussterben verdammt ist, nachdem die letzten jüngern Juden unter dem Eindruck des Antisemitismus der Gomulka-Zeit das Land verlassen haben.  - Die Spur der Verwüstung, die der deutsche Rassenwahn über die reiche Kultur der europäischen Juden durch den Kontinent gezogen hat, wird uns noch weiter begleiten.
  • Am frühen Nachmittag führt uns eine befahrene Ausfallstraße gen Osten aus Krakau heraus. Links und rechts Siedlungen im Stil von Nowa Huta. Je mehr wir uns jedoch von der Stadt entfernen, desto mehr prägt ländlicher Siedlungsstil die Landschaft. Nur die zahlreichen Busse mit Arbeitern, die von der Frühschicht heimkehren, erinnern noch an die Industrie-Region, die hinter uns liegt.
  • Ein Polnisch-Wörterbuch und ein gewisses schauspielerisches Bemühen hilft uns, mit drei Saufbrüdern vor einer Kneipe in einem kleinen Bergdörfchen Kontakt aufzunehmen. Ob das der geschickteste Zugang zur einheimischen Bevölkerung war, sei dahingestellt. Jedenfalls vermittelten die drei uns nach langwieriger Erklärung unseres Begehrens an eine vorbeigehende ältere Frau, die offensichtlich in ihrer Familie genügend Einfluß hatte, um zu erreichen, dass wir auf dem Heu des Hofes übernachten konnten.

Dienstag

  • Was seit Krakau begonnen hat wird immer deutlicher erkennbar. Auch die Nordkaparten sind ein Gebirge, das einen solchen Namen verdient hat. Allerdings fahren wir an den höchsten Gipfeln östlich vorbei, die 50 km weiter westlich um Zakopane ein Zentrum des polnischen Tourismus mit Gipfeln bis zu 2500 m bilden. Wir hingegen klettern (wegen einer geringfügigen Abweichung von der geplant-gewünschten Route) nur auf knapp 900 m. Auf dieser Höhe einen sportlich ausgerüsteten Radler zu treffen, ist in Polen immer noch ungewöhnlich. Wie sich in einer auf italienisch geführten Konversation herausstellte, war es ein polnischer, mit mir gleichalter Salesianer, der dort in den Bergen eine Pfarrstelle hat und sich im Sommer mit dem Rad fit hält.
  • Nach einer angenehmen Route durch das sich schlängelnde Tal des Poprad überquert man in Piwniczna die Grenze. Zum ersten mal werden unsere Pässe genauer untersucht und bestempelt. Ansonsten herrscht an dem wenig benutzten Grenzübergang in die Slowakei eine entspannte Atmosphäre, und die Kollegialität der polnischen und slowakischen Beamten könnte an einer westlichen Grenze nicht besser sein.
  • Dahinter führt die Straße bergauf. Auf halber Höhe stoßen wir auf ein Holzkirchlein, in dem eine kleine Schar zur Messe versammelt ist. Auffällig die zahlreiche Jugend und das Alter - völlig fehlend der Mittelbau. Eine Altersstruktur, die hier andere Gründe haben dürfte als im Westen. Der Unterschied zu Polen wird deutlich, als nach der Messe der Bischof, der sie zelebrierte, im einfachen Anzug seinen Kleinwagen besteigt und noch einige Jugendliche mitnimmt. Hier findet sich keine triumphalistische Kirche, sondern die Gemeinschaft derer, die bittere Verfolgung und Untergrund zusammengeschweißt hat. Der Unterschied zu Polen liegt wohl in einem völlig verschiedenen Verständnis dessen, was Hierarchie bedeutet.
  • Die Straße steigt noch bis gegen 750 m und hinter der Höhe öffnet sich der Blick auf das weite Tal des oberen Popard. Unweit der Straße lädt ein großes Felsmassiv unwiderstehlich dazu ein, den Tag mit einer Heiligen Messe vor dieser Kulisse und einem leckeren Abendessen vom Spirituskocher zu beschließen.

Mittwoch

  • Was zumindest mir die Slowakei gegenüber Polen unmittelbar sympathisch macht, ist die geschlossene Siedlungsform. Während der Teil Polens, den wir gesehen haben, fast völlig zersiedelt ist und keine geschlossenen Orts-Kerne kennt, beginnt direkt hinter der Grenze das Straßendorf vorzuherrschen; entlang einer Durchgangsstraße stehen Häuser, die hinter einem kleinen Vorgarten zur Straße hin einen Wohnbereich haben und jeweils dahinter Scheune und/oder Stallungen und ein kleines Feld. Diese Siedlungsform, fast unverändert, ist der gemeinsame Nenner aller Dörfer, die wir auch in der Ukraine, Ungarn und selbst im Burgenland bis Wien hin durchquert haben.
  • Dunkelhäutige Menschen, im Familiengruppen umherziehend, sind etwas, was uns auf dem ganzen Weg weiteren begleiteten wird. Fast überall sind sie, und doch nirgendwo zuhause. In den meisten Ländern wurden sie während der kommunistischen Zeit verfolgt, nachdem zuvor bereits die Deutschen versucht hatten, wo immer sie greifbar waren, sie erbarmungslos und zielgerichtet auszurotten. Wie die Sinti und Roma in das werdende neue Europa passen, wie sie die nächsten Modernisierungswellen überleben werden ist mir, offen gestanden, ein Rätsel. Hier sind Menschen die oft in bitterster Armut und am Rande der Staaten leben - und niemand, soweit ich weiß, hat eine Antwort, wie diese alten Wandervölker in ihrer kulturellen Identität bewahrt werden können.
  • Die nette und direkte Art, mit der ein kleiner Roma-Junge auf dem Marktplatz von Vranov na Topl'ou mit uns Kontakt aufnahm, unbeschadet vollständiger Sprachbarrieren, gehört zu den schönen und unbeschwerten Begegnungen mit diesem Volk.
  • Erwähnung verdient Presov, ein größerer Ort in der nordöstlichen Slowakei. Nachdem wir unsere Räder samt Gepäck an der Pforte einer orthodoxen Kirche deponieren konnten, hatten wir Zeit und Muße, dieses kleine Städtchen zu erwandern. Für uns wurde hier erstmalig sichtbar, was in der Ukraine und Ungarn allgegenwärtig ist: die religiöse und konfessionelle Vielfalt - aus der nur das mosaische Bekenntnis herausgebrannt und zum Dasein als musealem Relikt verdammt wurde. Presov ist eine erstaunlich lebendiges und offensichtlich als inländisches Touristenziel reich gewordenes Städtchen, das seine geschlossene Anlage längs einer vielbevölkerten Hauptstraße einer Funktion als k.u.k. Provinzverwaltung verdanken mag.

Donnerstag

  • Siebzig Kilometer weiter stehen wir erneut an eine Grenze, diesmal weit weniger unkompliziert als beim Übergang aus Polen in die Slowakei. Zwar ist es beruhigend, an der Form der Grenzabwicklung keine Anzeichen dafür zu sehen, dass eine Auflösung der staatlichen Strukturen der Ukraine zu Bestechlichkeiten führen mag. Im Gegenteil: wir werden zwar unsäglich bürokratisch und mit einem regulär recht teurem Visum aber doch ordnungsgemäß und alles in allem recht freundlich behandelt. Dass selbst die Durchreise mit dem Fahrrad, wo man sich an allen Autoschlangen vorbeidrücken kann, dann doch noch zwei bis drei Stunden dauert ist mit Gleichmut zu ertragen. Wenn Christian nicht beharrlich gewesen wäre, hätte mich bereits viel früher (schon durch die Visum-Gebühren) schrecken lassen.
  • Lediglich der agil-adrette ostdeutsche Frühpensionär, im einzigen Wagen, der nicht nur wie viele andere außen ein deutsches Nummernschild führt, sondern auch einen des Deutschen mächtigen Insassen befördert, ermöglicht uns eine kommunikative Bewältigung der Situation. Dass der Herr selber seine Stasi-Vergangenheit im "Ost-West-Handel" nutzt ist nur meine Vermutung - aber bei der Gewandtheit der Bewegung inmitten all der Ex-Rote-Armee-Uniformen ein naheliegender Schluss.
  • Nachdem wir die Grenze passiert haben beginnt fast unmittelbar die große Stadt Uzgorod in unverkennbar sowjetischem Gepräge. Gegenüber der Slowakei ist der Unterschied im Straßenbild augenfällig, aber doch nicht erschlagend.
  • Vor dem internationalen "Transkarpatischen Hotel" werden wir von zwei jungen Männern aufgelesen, die sich ihr Geld mit deutschen Touristen verdienen: Da wir die einzigen dieser Art weit und breit (und die wohl die ersten mit dem Rad) sind, kann dies nicht viel sein. Einer der beiden ist Alex, ein Student der Geschichte im dritten Jahr. Sein Hunger-Stipendium versucht er mit Fremdenführungen aufzufrischen. Nachdem sich (mein) anfängliches Misstrauen als völlig unbegründet herausgestellt hat, führt uns Alex zu einem angenehmen und sehr günstigen Hotel, wo wir das Gepäck (und später auch die Räder) im Zimmer einschließen können. Anschließend jagt Alex mit seinem Rad in atemberaubenden Tempo und unter Missachtung schier jeglicher Verkehrsregel durch das Gewühl von Uzgorod, verschafft uns mithilfe kleinerer Trinkgelder Zugang zu eigentlich am Spätnachmittag bereits geschlossenen Sehenswürdigkeiten und bringt uns zum Abendessen in ein Restaurant, das erste Haus am Platze. Das Menü dürfte der Ausgangspunkt meiner Verdauungsprobleme sein, deren spannende Fortsetzung sich Tag für Tat in diesem Bericht anfügen ließe. Da Selbiges aber nur bedingt unterhaltsam ist, will ich es dem geneigten Leser ersparen.
  • Nirgendwo denn bei dem kurzen Abstecher in die Ukraine ist uns so deutlich geworden, wie sehr die Umwälzungen die Älteren nicht nur entmachtet, sondern häufig völlig verarmt haben, während einige Junge es geschafft haben, mit Anfang Zwanzig eine kleine Schicht der Neureichen zu bilden, die aus der Situation Kapital schlägt. Deutlich wurde das beim Blick auf die wenigen anderen Gäste im Restaurant: Junge, anscheinend einheimische Männer und Frauen, genau die Typen, die man auch in den Westautos auf der Straße sieht und die man anderswo, vielleicht auch hier, für Zuhälter halten mag.
  • Im Hotel haben wir sehr gut und sauber geschlafen. Das dortselbst Schlepperbanden ihre Kunden für die Fahrt nach Deutschland aufnehmen, hat dem keinen Abbruch getan. Dennoch ist die aufgeregte Freude bedrückend, mit der ein junger Tamile um den Mercedes tanzt; der langhaarig-beringte Fahrer hat ihm wohl Hunderte harter Dollar abgeknöpft, um ihn nach Deutschland zu schleusen - ohne ihm zu sagen, was ihn dort erwartet. Daneben steht ein dunkelhäutiger Mazedonier, der das Geld nicht mehr aufbringen kann, um sich zu seiner Familie nach Düsseldorf schmuggeln zu lassen.

Freitag

  • Dass wir eine Stunde länger geschlafen haben als geplant, haben wir zu verdanken, dass das Frühstück im Hotel ausfiel. Vielleicht haben wir nicht allzu viel verpasst. Ursächlich war jedenfalls, dass wir die Zeitumstellung vertrödelt hatten. Gerade noch rechtzeitig trafen wir Alex am vereinbarten Treffpunkt. Nach einer Einweisung in die Geheimnisse des ukrainischen Postwesens haben wir die Postkarten-Vorräte des Kiosks im internationalen Hotel aufgekauft und harren nun der Meldungen, ob die Sendungen wohl ihren Weg finden.
  • Bevor wir Uzgorod verlassen, machen wir noch einen Abstecher in das Atelier von Alex' Vater, der als Maler von Landschaften und Bauernszenen versucht, sein Brot zu verdienen. Zu UdSSR-Zeiten war er bezahlter Künstler; jetzt muß er jede Gelegenheit nutzen, seine recht netten Bilder zu verkaufen. Der Stil ist wohl der der lokalen transkarpatischen Tradition, auch wenn Einflüsse aus dem sowjetischen Realismus unverkennbar bleiben.
  • Gegenüber Uzgorod hat die zweite von uns besuchte Ukrainische Stadt, Mukacevo, nicht viel zu bieten, zumal der Zustand der Straßen bei Christians Rad die Serie nicht weniger Platten eröffnet.

Samstag

  • Vom folgenden Tag gibt es außer landschaftlichen Eindrücken nicht viel zu berichten. Am Vormittag überqueren wir problemlos und schnell die Grenze nach Ungarn und fallen aus einer Welt in die andere. Mir war nicht bewusst, wie sehr Ungarn bereits eine Entwicklung in Richtung Westen durchgemacht hat. Man muß sich oft nachgerade anstrengend, um sich zu erinnern, dass diese Städte und Dörfer vor kurzem noch zum Comecon gehörten. Ostdeutschland nimmt sich demgegenüber oft ärmlich aus. Beeindruckend ist nicht zuletzt der hohe Standard des öffentlichen Bereiches, die Wasserversorgung, die gute Straßenqualität, das hervorragende Telefonnetz bis hin zur Stadtreinigung.
  • Die eigentliche Grenze zwischen Ost und West verläuft heute hier und wehe, wenn es nicht gelingt, in überschaubarer Zeit den Menschen jenseits dieser Grenze Hoffnung auf eine würdige Zukunft zu geben!
  • Kurz vor der Grenze, übrigens, auf ukrainischer Seite, überqueren wir noch eine Bahnlinie. Wie wir in Szeged erfahren werden, ist dies kein Zufall. Das königliche Ungarn hatte neben den sternförmig auf Budapest zulaufendenden Bahnen eine außen durch das Gebiet umlaufende Bahnlinie gekannt, an der mehrere wichtig Städte lagen. Als nach dem Ersten Weltkrieg die Sieger Ungarn zerstückelten zogen sie die neue Grenze genau so, dass diese Ring-Bahn außerhalb der neuen Grenzen blieb. Damals schickten die britischen Inseln keine EG-Vermittler sondern Sieger, um die kontinentalen Grenzen neu zu ziehen.

Sonntag

  • Die Nacht hat mit dem erstmalig aufkommenden starken Wind die Mücken vertrieben. Erst nach dem Frühstück, dann aber prompt und heftig, setzt ein Regen ein, der zwei Stunden lang anhält. Während wir in Kisvárda mit einer unierten Gemeinde den Sonntag feiern, klart es langsam auf und trotz einiger Regenschlieren am letzten Tag sollte dies der einzige wirkliche Regen der ganzen Tour bleiben.
  • Der Wind hingegen wird für die verbleibenden Tage unser Begleiter bleiben. Zunächst macht er sich in höchst angenehmer Weise bemerkbar: Brav aus Nordosten pustend läßt er das sonst eher trübsinnige Flachlandfahren zu einem der schönsten Teile der Fahrt werden. Ungarn ist nämlich flach. Landschaft hat es dort noch und nöcher. Aber Flachland kann auf die Nerven gehen, wenn man jeweils schon sieht, wo man Stunden später erst ankommt. Christian als gebürtigem Hamburger mag dies anders gegangen sein. Auch seine nostalgischen Erinnerungen an eine naßkalte Brise an den Landungsbrücken konnte mir die trockene Hitze der Pusta nicht madig machen.
  • Höhepunkt des Tages war Debrecen, die wichtigste Stadt im Nordosten Ungarns. Hier hat man ganz und gar das Gefühl, mitten in einer Westeuropäischen Stadt zu sein. Und selbst der dem Radfahrer so willkommene MacDonald's hat sich dort niedergelassen und lädt dazu ein, den hervorragenden Standard seiner Sanitäranlagen (aber auch nicht mehr) zu bewundern - und zu nutzen.

Montag

  • Mit 186 km war dies mit Abstand der Tag mit den meisten Kilometern. Da die Strecke weitgehend durch flaches Land und immer wieder nette kleine Dörfer führte, war die Reisegeschwindigkeit, zu der uns der Rückenwind verführte, kein Verlust an Erlebnis der Schönheit des Landes.
  • Lediglich auf der Etappe von Szentes bis Hódmezövásárhely (Betonung immer auf der ersten Silbe!!) am frühen Abend war für mir und wohl auch Christian bereits Erschöpfung anzumerken. Wie wohltuend dann ein "Büfet" am Ortseingang mit einem kühlen ungarischen Bier sein kann mag der Leser nur zu erahnen. Auf jeden Fall verschafften wir uns so die Kraft für die letzten 24 km bis nach Szeged.
  • Szeged, Universitätsstadt und kulturelles Zentrum des Südostens Ungarns liegt nur zehn Kilometer von der serbischen Grenze entfernt - die zu übertreten für uns keine große Versuchung war. Dort kamen wir bei den Mitbrüdern aus dem Jesuitenorden unter.

Dienstag

  • Den folgenden Tag haben wir komplett in Szeged verbracht und uns die zahlreichen Sehenswürdigkeiten des Ortes erwandert.
  • Auch hier wieder eine prachtvolle Synagoge, die Ende der zwanziger Jahre fertig geworden ist. Die verbliebene jüdische Gemeinde hingegen versammelt sich, gerademal die zum Gebet nötigen zehn Köpfe zählend, in einem kleinen Haus der Stadt. Wie ist es nur möglich, die so reiche und gesegnete Kultur auf einem ganzen Kontinent auszurotten, ja eine solche Vernichtung auch nur zu denken?

Mittwoch

  • Pläne müssen manchmal geändert werden. Wir hatten vor, an diesem sonnigen Tag bis vor Budapest mit dem Rad zu fahren. Leider ist dazu die Nationalstraße recht alternativlos, weil man in Richtung Budapest auf kleinen Straßen nur immer wieder "aufkreuzen" könnte und selbst dafür immer wieder auf die große Straße müßte. Die Nationalstraße ist, wie leider einige in Ungarn, für Radfahrer gesperrt und unsere ungarischen Freunde hatten uns gewarnt, dass der viele Verkehr auf der engen Straße unser Vorhaben gefährlich werden ließe. Nun Verbote müssen nicht hindern, und Männer lassen sich durch Gefahren der Straße nicht von wagemutigen Plänen abhalten. Aber der dichte Verkehr und die ständigen Lkws, die nur knapp an einem vorbeirauschen, weil die Straße so eng ist, verderben einem dann halt doch den Spass an der Sache; Verbote kann man übertreten und Gefahren bezwingen - aber wo der Spass aufhört, da hört er eben auf. Daher entschlossen wir uns nach gut dreißig Kilometern den Versuch abzubrechen, demontierten unsere Räder auf Gepäck-Größe und stiegen auf einen sehr bequemen und schnelle Zug nach Budapest um, wo wir noch recht früh am Tag angelangten, da wir zu nachtschlafender Zeit von Szeged aufgebrochen waren.
  • In Budapest suchten wir zunächst die örtliche Jesuitenresidenz auf, um dem jeglicher Fremdsprache unkundigen Pfortenbruder klarzumachen, dass wir die Räder samt Gepäck gerne bis zum späten Nachmittag bei ihm lassen würden. Es ist immer wieder erstaunlich, wie ausgedehnt eine Konversation sein kann, ohne dass eine einziges Wort beiden Teilnehmern gemeinsam ist. Ein kurz darauf erscheinender weiterer Jesuit, der deutsch sprach, konnte uns zudem die Sicherheit vermitteln, dass der Pfortenbruder unserer Gestik genau den Sinn beigelegt hatte, den wir auszudrücken uns redlich bemühten.
  • Budapest wäre sicher mehr als einen Tag wert. Aber große Städte sind nichts für Radfahrer. Geblieben ist der feste Vorsatz, zurückzukommen. - Am Abend fuhren wir dann noch ein bis zwei Stündchen die Donaus aufwärts, um im vielbevölkerten Donauknie unser Lager aufzuschlagen. Die Nacht sollte allerdings eine Katastrophe werden: ich hätte nie gedacht, dass es so viele Mücken geben kann. Fest in die Schlafsäcke gehüllt, die sich wegen der hohen Außentemperaturen daraufhin in wahre Badewannen aus Schweiß verwandelten, versuchten wir den den Mücken zugänglichen Körperbereich zu minimieren, alle erdenklichen Schutzvorrichtungen zu aktivieren: vergeblich. Ich weiß nicht, wer glücklicher zu schätzen ist, Christian, der irgendwann in einen Erschöpfungsschlaf gesunken ist, oder ich, der ich die ganze Nacht gekämpft hatte. Denn während ich am nächsten Morgen mit wenigen Dutzend Stichen und dreißig vernichteten Gegnern allein innerhalb des Schlafsackes aufwarten konnte, hat Christian den akademischen Streit um die Frage entschieden, ob es so etwas wie eine natürliche Grenze für die Stechhäufigkeit gibt. Es könnte ja sein, dass Mückenstiche von den Viechern nur nebeneinander gesetzt werden. Sie werden nicht. Der wie von Pestbeulen verunstaltete Körperteil meines Kompagnions, der am Vortag noch als Kopf anzusprechen gewesen wäre, hat mutmaßlich Liter frischen Blutes durch kleine Rüsselchen an gierige kleine Tierchen weitergeleitet, die, aus mir unbekannten Gründen, zu allem Überfluß noch irgendeine giftige Substanz ihrem Gönner unter die Haut spritzen. Gute Nacht.

Donnerstag

  • Der nächste Tag, mit zwei Nickerchen zwischendurch gesegnet, hat die Schrecken der Nacht bald vergessen gemacht. Zuviel Sehenswertes gibt es entlang der Ufer: von den Ruinen, die heute noch eine milde Ahnung von der gewaltigen Festung Visegrád geben, bis hin zur gewaltigen Basilika von Esztergom. Als Tip für den beschaulichen Besucher dieser Stadt, die zu Recht als eine der Perlen Ungarns gilt, möge der Hügel gelten, der gegenüber dem Palast-Hügel liegt. Hier kann man vor einem kleinen Kapellchen sitzen und ungestört von den sonst allgegenwärtigen Touristen-Scharen nicht nur den Blick auf die Stadt, sondern auch den auf die weite Ebene der angrenzenden Slowakei genießen.

Freitag

  • Am letzten Tag holte uns der Wind, den wir so lange genossen hatten, endgültig ein. Hatten wir erst noch gehofft, noch ein ganzes Stück in Österreich der Donau entlang gen Heimat fahren zu können, setzte noch in Ungarn ein solcher Gegenwind ein, der sich jenseits der Grenze zudem mit Strichregen vermischte, dass jegliche Hoffnung auf das Erreichen etwa von Linz oder gar Passau ins Reich der Phantasie verwiesen werden mußte. Um nicht zu guter Letzt irgendwo in der Walachei die Tour abbrechen zu müssen, fuhren wir lieber in Wien ein, um dort nach einem opulenten Abendmahl im Restaurant mit einem guten Glas Bier die Tour zu beschließen und uns auf den Nachtzug nach München bzw. Köln zu verteilen.

 

 

Author: Martin Löwenstein SJ



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