Fahrradtour September 1999: Krakau - JastrzÍbia Góra Martin Löwenstein SJ
Anfang und Ziel der Fahrradtour in diesem Jahr lassen sich
eindeutig erklären. Zwar ist der Start in Krakau auch eine
Fortsetzung der gemeinsamen Polentour mit Ansgar, die wir letztes
Jahr nach zwei Wochen wegen des schauerlichen Regenwetters in
Rzeszów abbrechen mußten. Dieses Jahr aber war ich
in Krakau, um dort über den Sommer in die Anfänge der
polnischen Sprache einzusteigen. Viel mehr als ein Einstieg in
die Anfangsgründe ist es in den vier Monaten trotz der wunderbaren
Stadt Krakau nicht geworden. Danach hatte ich drei Wochen Zeit
bis zum Beginn eines Kurses, an dem ich ab Ende September in
JastrzÍbia Góra teilnehmen wollte, nördlich
von Danzig am anderen Ende Polens gelegen. Da dies recht spät
im Jahr ist, gab es heuer keine Möglichkeit, mit Ansgar
gemeinsam zu fahren. Ursprünglich wollte aber Christian
dabei sein, mit dem ich 1992 zum ersten Mal mit dem Rad in Polen
und anschließend in der Slowakei, der Ukraine und Ungarn
war. Wir hatten mithin das östliche Mitteleuropa gemeinsam
angeschnuppert. Christian mußte jedoch kurzfristig absagen.
So war ich allein, was einerseits recht langweilig ist, andererseits
die Begegnung mit Land und Leuten intensiver macht, der offenkundigen
Hilfsbedürftigkeit wegen. Anfang und Ende der Reise erklären sich also aus dem
Sommer in Krakau und der für den Winter geplanten Zeit in
Nordpolen. Wenn man diese beiden Punkte allerdings mit der tatsächlichen
Route vergleicht, drängt sich nicht gerade der Eindruck
von Zielstrebigkeit auf. Gänzlich irrig wäre die Meinung,
ich hätte eine Route von hier nach dort gesucht, die mich
im gleichmäßigen Sicherheitsabstand um Warschau herum
führt, oder ich hätte mich immer möglichst nahe
an der polnischen Außengrenze bewegen wollen, der schnelleren
Fluchtmöglichkeit wegen. Richtig ist vielmehr, dass ich
auf dem weiten Bogen durch den Osten und vor allem Nordosten
von Polen die schönsten Landstriche des Landes kennen gelernt
habe und die wohl recht flache und langweilige Mitte meiden konnte.
Bis Freitag dauerte der Unterricht in der Sprachschule. Dass
ich erst am Dienstag losgefahren bin, hatte nicht nur den unschätzbaren
Vorteil, in Ruhe packen zu können, sondern verschafft mir
auch vom Start weg gutes Wetter, da es noch am Wochenende geregnet
hatte.
Um viertel nach sieben sitze ich zum ersten Mal seit letztem Sommer wieder mit Tourengepäck auf dem Rad. Mit Kochgeschirr, Schlafsack und Matratze, Werkzeug und Kleidung zum Wechseln kommt schon einiges Gewicht zusammen. Da ich zudem fest damit rechnete, zwischendurch regenbedingte Pausen einlegen zu müssen (September!) habe ich noch reichlich Lektüre mitgenommen (polnisch! Sprachkurs! Wörterbücher!). Überflüssigerweise, wie sich herausstellte. Bis zum letzten Tag habe ich nicht einen Tropfen Regen abbekommen. Ziel der ersten Etappe ist ein kleiner Flecken, etwa 100 Kilometer
weichselabwärts, wo ich bei der Familie eines Mitbruders
unterzukommen hoffe. Aus Krakau heraus fahre ich bereits die
Straße Nummer 777, auf der ich einige Zeit bleiben werde.
Auf den ersten rund 30 km gibt es zwar viel (Schwer-)Verkehr,
dann aber geht es. Noch etwas unsicher radle ich auf der ÑJohannes-Paul-II-Allee"
durch das Zentrum der sozialistischen Musterstadt Nowa Huta.
Auch in Deutschland hat man vielleicht noch die Ereignisse aus
den 50er Jahren in Erinnerung, als christliche Arbeiter der Staatsmacht
den Bau dieser Kirche durch Hartnäckigkeit abgetrotzt haben.
Hingegen trifft das auch in Polen zu hörende Vorurteil aber
ganz und gar nicht, Nowa Huta sei der Inbegriff einer hässlichen
Industriestadt. Im Gegenteil ist die Stadt in Ihrer ursprünglich
Anlage geradezu vorbildlich für ein modernes Großstadtkonzept,
wenn denn gegründet auf der grünen Wiese. Das Zueinander
von Wohnen, Arbeiten, Einkaufen und Kultur für viele Menschen
ist überzeugend und ästhetisch ansprechend gelöst
worden. Großzügig angelegte und begrünte Boulevards
gliedern die Stadt in Wohnblöcke, die nach außen gut
proportionierte Fassaden zeigen und innen Raum für grüne
Innenhöfe schaffen. Erst ab den späten sechziger Jahren
wurden um diesen Kern herum phantasielos Wohnsilos nach westlichem
Muster geklotzt. Dann in den späten achtziger und den neunziger
Jahren findet sich wieder Stilwillen in der Architektur. In den
achtziger Jahren entstand auch eine zweite Kirche, jetzt in der
Mitte von Nowa Huta, eine moderne Kathedrale, die in einer mutigen
und gelungenen Stahl-Stein-Konstruktion ihresgleichen sucht.
Mittlerweile sind weiter Kirchen in Bau oder Planung. Die Straße läuft mal näher, mal weiter entfernt
vom Fluss, während die Landschaft sich in Wellen zwischen
200 und 250 Metern hebt und senkt. Touristischer Höhepunkt
(und Ort einer Mittagsruhe am Fluss) ist Nowe Korczyn. Ganz zu
Unrecht übergeht der sonst zuverlässige (wenn auch
über 1 kg schwere!) DuMont Führer den Ort. Nicht nur
die ursprünglich gotische, dann erträglich barockisierte
Franziskanerkirche ist sehenswert. Zum ersten Mal sehe ich in
Polen außerhalb der großen Städte eine alte
Synagoge. An Größe steht sie der Kirche im Ort nicht
nach. Scheinbar hat sie die deutsche Barbarei gut überstanden
und wurde auch nach dem Krieg noch erhalten. Jetzt aber verkommt
der ganze Bau, zerfällt und verfault, Wind, Wetter und Graffiti-Sprayern
preisgegeben. Wohl niemand fühlt sich zuständig, den
Bau als Museum oder Denkmal einer ausgemerzten Kultur zu erhalten.
Dem Tod folgt das Vergessen. Meine Route weicht von der 777 ab und folgt der Weichsel auf
kleinen Straßen. Hier wie in der ganzen Gegend ist die
Landschaft mit kleinsten Höfen zersiedelt, die jeweils wenige
Hektar hinter dem Haus haben. An einer der zahlreichen Kneipen
mache ich halt, weil ich erst für 18.00 Uhr angemeldet bin
und erfreulich leichter und schneller vorangekommen war. Ein
solcher Aufenthalt in (oder vor) einer örtlichen Kneipe
erweist sich jedoch schnell als anstrengend, weil der trinkfreudige
Teil der ansässigen Bevölkerung äußerst
kontaktfreudig und informationsbedürftig ist und mir unversehens
ein spendiertes Bier unter die Nase stellt - und im Sinne der
Völkerverständigung und des proletarischen Internationalismus
ist diese Geste nicht als Aufforderung zum Riechen zu verstehen.
Die Unterhaltung ist wie immer radebrechend-mühsam, aber
weil jedes zweite Wort mit der Silbe Ñkur-Ñ
beginnt (als Andeutung des polnischen Pendants zum f-word,
durchaus härter als Schei-benkleister) verstehe
ich schon einmal 50% des Gesagten. Nur zur rechten Antwort fehlt
es halt. Ich unterhalte mich mit zwei wohl rund 40-jährigen
Männern, die lauthals lamentieren, in welchem Zustand Polen
sei (und dass es ihnen nicht gelungen sei nach Deutschland oder
in die USA auszuwandern). Erst als ich auf das Faktum (Ñto
jest fakt", sage ich in fließendem Polnisch!) der
ungewöhnlichen Schönheit der polnischen Weiblichkeit
hinweise, gelingt es mir den beiden auch einen positiveren Aspekt
ihrer polnischen Heimat abzuringen. Dann aber senkt einer die
Stimme, schaut vorsichtig nach allen Seiten, ob auch kein ungebetener
Zuhörer sei, und raunt dass unter Hitler in Polen noch Ordnung
geherrscht habe und mit den Juden aufgeräumt worden sei.
Das ist so eine Situation, wo ich gerne besser Polnisch könnte,
um angemessen antworten zu können. Die Familie, bei der ich übernachte, sind typische Kleinbauern (incl. dem Sohn, der Priester ist). Der Vater ist 81 und reichlich rheumageplagt, die Mutter wohl gleich alt aber recht rüstig, zwei Kühe, vier Hunde und jede Menge Gänse. Trotz meiner Müdigkeit nach dem ersten Tag genieße ich die Gastfreundschaft, während wir uns einmal quer durchs Familienalbum blättern.
Da die dazu nötigen Utensilien im Haus sind, können wir am nächsten Morgen im Haus eine Hl. Messe feiern. Mit - oczywiste - reichlich Reiseproviant versorgt werde ich auf den Weg entlassen. Ich überquere einige Kilometer weiter die Weichsel und folge jetzt auf der Südseite dem Fluss, wenn auch meist in einigem Abstand. Ganz offensichtlich gehören hier wie fast überall, wo ich gewesen bin, Hochwasser zur historischen Erfahrung, weswegen die Städte keine Uferpromenaden haben und nur in bedachtem Abstand vom Fluss oder meist ob desselben gebaut wurden. Auch auf dem Lande führt weder eine Straße direkt am Fluss entlang noch liegen hier Ortschaften. Heute sichern zudem Dämme in üppigem Abstand den Lauf der Weichsel und ihrer Zuflüsse. In Baranów, 30 km vor Sandomierz gelegen, sehe ich
das erste von wohl noch mehreren Magnatenschlössern, hier
ein Schloß der Familie Lubomirski. Die hochadeligen Magnaten
mit ihren Prachtschlössern sind die eigentliche Ursache
für die jahrhundertelange Knechtung Polens, da sie jede
Reform verhindert haben. Auch dass man in Polen so wenig durch
Bürgertum reich gewordene Städte oder auch nur einigermaßen
ansehnliche Kleinstädte sieht und die Dörfer bis in
jüngste Zeit so bitter arm waren und nicht einmal eine Kirche
hatten, hängt mit der extremen sozialen Situation der Adelsrepublik
zusammen. Dagegen stechen natürlich die reichen Schlösser
gewaltig ab und sind in der Tat sehenswert, auch wenn sie vielleicht
zum Teil nur dadurch so beindruckend wirken, dass weit und breit
keine anderen historischen Steinbauten ihnen Konkurrenz machen.
So kann man sich ausmalen, wie diese von italienischen Architekten
gebauten Paläste auf das Selbstbewusstsein ihrer Bewohner
gewirkt haben - und das ihrer Untergebenen. Sandomierz ist eine der alten Städte Polens, bewährt
im Widerstand gegen Hunnen und Mongolen. Zur Besichtigung habe
ich den Abend und den nächsten Morgen und zur Übernachtung
konnte ich eine ganz saubere Fernfahrerpension auftun, wo ich
mein Gepäck lassen kann. Die Stadt gehört zu den schönsten
in Ostpolen und galt lange Zeit als Nummer zwei hinter Krakau,
obwohl es doch viel kleiner ist. Besonders zu erwähnen ist die Kathedrale. Statt der herkömmlichen
Kreuzwegtafeln an den Wänden ist die Kirche in den Seitenschiffen
und an der Nordwand mit fünfzehn monumentalen Ölgemälden
von je 2 mal 4 Metern Größe bedeckt. Eines zeigt die
Zerstörung der Stadt durch die Mongolen und das andere die
immer noch sehr präsente, außerordentlich sinnlos
brutale Zerstörung durch die Schweden im Jahre 1516. Im
gleichen Stil und häufig mit der Stadt als Hintergrund hat
man zwölf Bilder gemalt, die jeweils die Martyrer-Tode der
Heiligen eines Monats in einer Komposition der recht drastisch-blutigen
Szenen zeigt. Alles, was ich aus Hollywood kenne, ist im Vergleich
dazu jugendfrei. Der Gipfel aber ist ein an der Nordwand in die
Reihe eingefügtes Gemälde gleicher Proportionen, das
mit allen blutigen Details einen Ritualmord von Juden an einem
christlichen Kind zeigt, hier konkret nach der Legende der Ermordung
einer Apothekerstochter. Leider weiß ich nicht, wie diese
Legenden historisch entstanden sind. Sicher aber waren sie Vorwand
für grausame Pogrome an den Juden. Der örtliche Bischof,
so wird mir eilfertig erklärt, habe auch schon überlegt,
das Bild abnehmen zu lassen, aber das sei doch so schwierig,
weil das Bild in einer Reihe mit den anderen hänge... Eben!
In Nachbarschaft solcher Gemälde feiert man die Frühmesse mit höhst eigentümlichen Gefühlen. - Von Sandomierz nach Norden führt wieder die vertraute 777, auch weiterhin ein angenehmer Weg. Ganz unverdient verschwindet sie sang- und klanglos 30 km weiter, weil am Fluss entlang kein Weg mehr gebraucht wird. Von einer 1801 in klassizistischem Stil erbauten Kirche in Zawichost wäre nichts zu berichten, hätte man nicht in die beiden Nischen der Westfassade, dort wo gewöhnlich große Heilige aufgestellt werden, in großzügiger Auslegung der Regeln der Catholika zwei überlebensgroße Figuren plaziert: Weithin grüßend respektive segnend: Papst Johannes Paul II und Stefan Wyszynski, vormals Primas der polnischen Kirche. Vielerorts in der polnischen Ikonographie wird die in der katholischen Kirche übliche Unterscheidung zwischen anerkannten Heiligen und anderen, gar noch lebenden Persönlichkeiten großzügig ignoriert. Aber dass die beiden alle Heiligen verdrängen und wie Patrone der Pfarrkirche aufgestellt werden, ist doch auch hier extrem. Zwar auf der Karte nicht verzeichnet, gibt es in Zawichost doch eine Fähre über die Weichsel, die mich mangels anderer Kundschaft exklusive und das nur zum Fußgängerpreis nach Osten übersetzt. Alle Ratschläge des Fährmanns in den Wind schlagend suche ich eine Abkürzung, um die Nationalstraße 74 nach Lublin zu meiden. Der Weg ist auf der Karte zwar nur ganz dünn, aber durchgehend von Häusern gesäumt verzeichnet. Wo Menschen leben, muß mit dem Rad auch zu fahren sein, denke ich mir. Fahren ist nicht gleich fahren, wenn statt festem Untergrund loser Sand das Vorwärtskommen mit schwerbepacktem Rad mühsam macht. Dem zum Trotz reut mich der Mut aber nicht. Zum einen hat mir die Abkürzung einen recht großen Umweg erspart. Vor allem aber sind das hier Häuser und Straßen, die man sonst nicht sieht, wo aller Fortschritt noch auf sich warten läßt, die Häuser durchweg aus Holz und die Straßen nicht einmal mit Kies befestigt sind. Was aber an diesem fehlt, machen zumindest für das Auge die gepflegten Gärten mit prachtvollen Blumenbeeten wieder wett. Die Scheunen sind, nebenbei bemerkt, hier größer als andernorts, weil in Ostpolen viel Tabak angebaut wird, zu dessen Trocknung man mehr Raum benötigt. Die letzten 60 km bis Lublin bleibe ich auf der Nationalstraße,
statt wie ursprünglich geplant schlangenpfadig auf Nebenstraßen
auszuweichen. Der Verkehr auf der N74 ist noch deutlich unter
der Schmerzgrenze; auf den kleinen Straßen ist der Verkehr
zwar nahe Null, dafür kann man halt nicht so leicht ein
Ziel gerade ansteuern.
Bis zum übernächsten Morgen bleibe ich in Lublin. Die Stadt ist es wert. Den Vormittag nutze ich, um übliches Touristenprogramm zu absolvieren (derer es hier selbst in der Hauptsaison nur wenige gibt). Einzigartig ist die spätgotische byzantinische Kapelle in der Burg mit Fresken, die so kaum woanders in Europa zu sehen sind. Ich habe nicht den Eindruck, dass die Polen sich bewusst machen, wie eng sie mit Byzanz verbunden sind. Am Nachmittag besuche ich das Konzentrationslager Lublin;
das große Gelände am Südrand der Stadt ist bekannter
unter dem Namen Majdanek. Wie unterschiedlich sind die Gedenkstätten.
Auschwitz als nationaler Ort der Polen und der Juden wird von
unzähligen Menschen besucht. Be>øec (an der ukrainischen
Grenze), das ich im Sommer besucht hatte, war zwar eines der
weitaus größten Vernichtungslager, ist aber heute
eine vergessene, ungepflegte Gedenkstätte irgendwo im nirgendwo.
Hier wurde nicht mehr gelebt, nicht mehr gearbeitet, nur noch
gestorben. Die reine Vernichtung ist gegenüber den Arbeitslagern
nicht dar- und nicht vorstellbar. Demgegenüber hat man in
Majdanek mit zwei gewaltigen Gedenkbauten ein Andenken geschaffen,
dass auf Bildern recht unförmig wirkt, vor Ort aber genau
die Proportionen hat, die der Ort erfordert. Auf der einen Seite
steht ein gewaltiger, als Leuchter oder Baum stilisierter Betonquader,
vor dem ein Weg in die Tiefe führt und an einer Wand endet.
Von dort geht eine lange Straße zum andere Ende des Lagers,
dorthin wo die Krematorien standen. Die Asche der Toten, die
man bei der Befreiung vorgefunden hat, weil sie von den Technikern
des Mordens nicht mehr zur Düngung auf die Felder verbracht
werden konnten, hat man auf einem großen Berg von ca. 15
m Durchmesser belassen und darüber eine massive Kuppel gewölbt.
Ein stiller Ort, der durch seine Einfachheit und seine Ausmaße
das Ausmaß des Verbrechens deutlicher spüren läßt,
als die didaktisch eingerichteten verbliebenen Baracken weiter
abseits. Themenwechsel. Am Nachmittag bin ich kreuz und quer durch
die Stadt geradelt und gewandert, was ich gerne tue, weil es
mehr Gespür für die Realität einer Stadt vermittelt
als die Highlights aus dem Fremdenführer. Angeblich hat
in Polen ja seit 1948 der Kommunismus geherrscht. Man mag das
nicht so recht glauben, wenn man sieht, dass sich in Lublin die
Anfang des Jahrhunderts gegründete Katholische Universität
Lublin (KUL) halten und durchweg höchsten Akademischen Standard
bewahren konnte. Karol Wojti>a war hier Professor für
Philosophie. Die Universität hatte zwar in der Mitte des
Jahrhunderts an die Nazis und den NKWD einen hohen Blutzoll zu
entrichten, konnte sich aber als Institution bewahren und wird
bis heute weiter ausgebaut.
Ein Fahrttag, zumeist auf Nebenstraßen. Die Landschaft
ist hier auf 160 Höhenmeter flacher und mit Seen und Bächen
und Wäldern abwechslungsreicher als bisher. Auch die Felder
sind größer. Manchmal erinnert es mich an Westfalen,
nur dass die stolzen westfälischen Höfe fehlen, wenn
auch in dieser Gegend weit mehr Steinhäuser auch in den
kleinen Dörfern zu sehen sind als bisher. Merkwürdigerweise
scheint es aber die Regel zu sein, dass Holzhäuer die schöneren
Blumen vor dem Haus haben. Zur Nacht läßt mich ein
Bauer in seinem Neubau schlafen. Er sei "w porz±tku",
o.k., hatten die Nachbarn von ihm gesagt. Er ist es.
Ein weiterer großer Palast, dieses mal einst von der Familie Radziwil errichtet, liegt am Weg. Die Landschaft macht die Fahrt zum Vergnügen. Die Dörfer rücken mehr zusammen, was erheblich schöner und abwechslungsreicher ist als die gleichmäßige Zersiedlung. Dazwischen liegen große Felder, auf denen neben allerlei anderem auch große Kürbisse gedeihen, die abends geerntet und ihrer Kerne beraubt werden. Den Rest der Kürbisse läßt man, scheint es mir, ungenutzt liegen. Die Kerne finden sich vermutlich im deutschen Ökobrot wieder. Ich bin jetzt ganz nahe an der Grenze zu Weißrussland und auch diesseits, in Polen, komme ich heute und morgen durch die Gegend mit der größten weißrussischen Minderheit, die aufgrund der wirtschaftlichen Randlage ein viel größeres Minderheitenproblem darstellt als die deutsche in Schlesien. Ganz kann ich mich des Verdachts nicht erwehren, dass die (lateinischen) Wegkreuze nicht zufällig hier häufiger zu sehen sind, sondern den national-religiösen Anspruch der lateinisch-katholischen Polen unterstreichen. - Offenbar gibt es viele Weißrussen, die diesseits der Grenze ihre Geschäfte machen, nicht ohne Erfolg, wenn man die Größe der Autos betrachtet, nicht ganz koscher, wenn man diese großen westlichen Autos mit der Armut in ihrer Heimat vergleicht. Hier treffe ich auch die einzigen anderen Radwanderer der ganzen Tour, ein Vater mit Sohn aus Warschau, die ganz gegen den in Polen üblichen Trend überzeugte Urlaubsradler sind. Natürlich hält man dafür an und plaudert ein wenig über die wichtigen Themen: wie das Wetter und wie die Route ist und wo man die meisten weißrussischen Wegelagerer zu erwarten hat... Zur Übernachtung finde ich eine sehr nett gelegene (Jugend-)Herberge
an einem kleinen künstlichen See.
In der Gegend von Hajnówka findet sich der angeblich
größte zusammenhängende Urwald in Europa. Ich
vermute, dass es hier in der Gegend ist, wo meine gewässerforschende
Schwester Osy schon manchen Sommer verbracht hat. Von den berühmten
Wasserbüffeln allerdings habe ich keinen gesehen, was mir
zumindest die Begegnung mit den unweigerlich in deren Gesellschaft
in Massen auftretenden Stechmücken erspart hat. In Hajnówka
selbst sehe ich, dass auch die orthodoxe Kirche von der neuen
Freiheit profitiert und einen großen Neubau errichten kann.
Für die Mittagspause hatte ich den großen See Jezioro
Siemianówka angesteuert, der sich aber als hässliche
und stinkende, künstlich aufgestaute Enttäuschung entpuppt.
Es folgen lange und einsame gerade Straßen durch Wälder
in einer Landschaft, die sich bei etwa 180 Höhenmeter leicht
wellt. Immer wieder sind Soldatengräber zu sehen, zumeist
von Partisanen, die sich mit der Zerschlagung und geplanten Vernichtung
Polens nicht abfinden wollten und daher weiterkämpften,
als das offizielle Polen schon längst kapitulieren mußte.
Bei regulären Truppen gelten Partisanen als sehr unangemessen,
weil sie nicht im Rahmen des Ñzivilisierenden" Kriegsrechts
kämpfen. Doch welche Zivilisation gilt noch, wenn ein Land
beschlossen hat, das andere als abhängiges Sklavengebiet
zu unterjochen und jeden, der den Kopf aus der Masse hebt um
diesen kürzer zu machen? Den ganzen Tag fahre ich mehr oder weniger entlang der weißrussischen
Grenze. Für die Nacht wollte ich mir in der Region etwa
40 km östlich der Großstadt Bia>ystok ein Quartier
suchen, obwohl es recht unsicher ist, ob ich östlich des
großen Waldes, der Bia>ystok von der Grenze trennt,
auch befahrbare Wege finde. Den Plan aber macht dann der erste
(und einzige) Platten der Tour in Verbindung mit einer nicht
mehr ganz taufrischen Kondition zunichte. Die Luft entweicht
zuerst ganz langsam, sodass ich, als ich auf die große
Straße, die von Bia>ystok zur weißrussischen Grenze
stoße. Ich entschließe mich Richtung Großstadt
zu fahren, hoffend dass ich mit ab und an Aufpumpen bis dorthin
kommen werde. Nach drei oder viermaligen Pumpen entweicht die
Luft aber so schnell, dass an ein Weiterfahren nicht zu denken
ist. Dies aber geschieht just an der Stelle, wo eine Kneipe einsam
am Straßenrand liegt. Auf meine Nachfrage bezüglich
Übernachtungsmöglichkeiten hin zeigt man mir ein Zimmerchen,
dass der geschmackvollen Farbe der Beleuchtung nach zu schließen
sonst eher stundenweise vermietet wird. Da ich es aber auch für
die ganze Nacht und ohne Inanspruchnahme weiterer Dienstleistungen
bekomme und den Preis auf (immer noch gute) zehn Mark herunterhandeln
kann, entschließe ich mich, dort zur Nacht zu bleiben und
in Ruhe mein Rad zu flicken.
Der Wirt war doch sichtlich unglücklich, dass ich den Preis soweit heruntergehandelt hatte, und war wohl über meine Hartnäckigkeit erstaunt, mit der ich weitere Zahlungen für Dusche und Toilette ablehne. Daher breche ich am Morgen früh und leichten Herzens ohne Abschied auf, bevor er auf die Idee kommt, mir fürs reine Schneuzen etwas berechnen zu wollen. In obiger Schilderung habe ich mit deutscher Bequemlichkeit den Ortsnamen Bia>ystok immer gleich geschrieben. Es muß aber darauf hingewiesen werden, dass die Polen die gräuliche Angewohnheit haben, Orts- und Eigennamen zu deklinieren, sodass der Ort zwar Bia>ystok (sprich etwa: Biauestok) heißt, man aber nach Bia>egostoku fährt oder in Bia>ymstoku wohnt. Kein Bedarf an Großstadt: Ich fahre an Bia>ystok vorbei. 12 km führt wunderschön eine einsame Straße schnurgerade durch den dichten, morgenfrischen Wald nach Supral. Dort bin ich zeitig zur Frühmesse, die der Priester mit beachtlicher Geschwindigkeit bis zum Segen bringt. Von diesem Tag sind noch einige Dinge erzählenswert. In Supral baut man an der Wiedererrichtung eines byzantinischen Klosters mit einer Kirche, die sehr schön zu werden verspricht. Es fällt aber auf, dass im Vergleich zu den modernen Kirchenbauten der Katholiken die Orthodoxen streng an die klassische Architektur gebunden bleiben. Daneben gibt es auch noch eine evangelische Kirche, da vor zweihundert Jahren deutsche Tuchmacher dort angesiedelt worden waren. Seit der Vertreibung der Deutschen 1945 stand die Kirche leer, soll aber jetzt (von den Katholiken) wieder hergerichtet werden, ohne dass ich verstanden hätte zu welchem Behufe. Ein noch viel bemerkenswerteres Zeugnis religiöser Vielfalt finde ich aber zwei Stunden weiter, abseits der großen Straße, nur über staubiges Pflaster erreichbar. In Polen gibt es drei oder vier Dörfer die von ÑMuselmanen" bewohnt werden, Muslime, die aus irgendwelchen Gründen hier vor dreihundert Jahren geschlossenen in Dörfern angesiedelt wurden. In der Tat sieht man auf der Straße (Singular: es gibt nur eine!) Gesichter, die deutlich asiatischen Einschlag haben. Der Zufall will es, dass ich jemanden treffe, der den Schlüssel zur in Holz gebauten Moschee hat und mir diese zeigt, wahrscheinlich die einzige autochthone Moschee in Nord- oder Mitteleuropa. Lange wird diese Tradition aber nicht mehr erhalten bleiben, weil die Jungen fast ausnahmslos abwandern, um in den größeren Städten Arbeit zu finden. Außerhalb des Dorfes liegt ein großer, auf einem Hügel angelegter Friedhof. Die entzifferbaren Grabsteine gehen bis zur Jahrhundertwende zurück, wobei die ältesten Tafeln aus groben Steinen bestehen, in die die Namen geritzt wurden: Mustafa Aleksandrowicz, Zacharias Sulkiewicz, Ali Milkamanowicz, Mirjema SzczÍsnowicz und was es sonst noch an typisch polnischen Namen dort zu lesen gibt. Zurück zur Starße nach D±browa, erweist
sich diese als im Vergleich zum bisherigen unerträglich
verkehrsreich: mehrfach die Stunde brausen Autos an mir vorbei!
In D±browa konnte ich bei Freunden übernachten.
Am nächsten Tag werde ich noch eingeladen, anschließend
zusammen mit dem Ruderboot auf der Biebrza zu fahren, einem naturbelassenen
Flüsschen, entlang dessen sich das längste Naturschutzgebiet
des Landes erstreckt. So bekomme ich an diesem Morgen noch allerlei
Reiher, Wildgänse und Fasane zu sehen. D±browa wird
mir in guter Erinnerung bleiben. Für den Rest des Tages schaffe ich nur noch eine kleine
Etappe.
Früher Aufbruch. Eine Stunde weiter, kurz vor Olecko
beginnt (Ost-)Preußen. Die Zeichen sind unübersehbar:
Die großbäuerlichen Höfe erinnern mehr an Deutschland
denn an Polen, die Schule in Olecko sieht so nach Kaiser-Wilhelm-Gymnasium
aus, wie man es sich nur denken mag, und vor größeren
Orten sind, selbstverständlich, Schrebergärten. Gleich
als erstes treffe ich in Ostpreußen auf einen deutsch-russischen
Soldatenfriedhof - aus dem ersten Weltkrieg. Hier dürfen
die russischen Soldaten, wenn auch namenlos, so doch unter Kreuzen
ruhen, statt wie die Helden des Vaterländischen Krieges
unter Sowjetsternen begraben die Morgenröte der Weltrevolution
zu erwarten. In Wieliczki (wie immer das auf Deutsch geheißen
hat) findet sich eine wunderschöne Holzkirche aus dem 17.
Jahrhundert, deren Chronik besagt, sie sei Ñbis 1945 protestantisch
besetzt" gewesen. So, so. Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich wirklich in Preußen. Dass es so schön ist, hatte ich nicht erwartet. In dieser prachtvollen Landschaft sind malerische Seen zwischen Hügel und Wälder gebettet mit gepflegten kleinen Orten dazwischen. In KÍtrzyn (Rastenburg) mache ich im Schatten einer kleineren Kreuzfahrerburg eine letzte Rast, bevor nach ¶wiÍta Lipka (Heiligelinde) geht. Der DuMont-Führer hatte mich gewarnt, die Überraschung ist dennoch gewaltig: ein solches Schmuckstück des Barocks inmitten dieser sonst von herber gotischer Architektur geprägten Landschaft ist überwältigend. Nicht allzu groß aber so genial in das Tal eingefügt ist diese Kirche eine der schönsten Wallfahrtstätten die ich kenne. Besonders erwähnenswert ist eine verspielte Barockorgel, die mit allerlei Figuren beim klassischen Orgelspiel den Glauben lehrt: Ein Engel (Gabriel) verbeugt sich tief vor Maria, ihr die Botschaft bringend; während diese auf der anderen Seite des Orgelprospektes zustimmend nickt, blasen andere Engel die Posaunen, schlagen Puttchen die Glöckchen und jubelt das ganze Universum, dass Gott Mensch werden will. Die polnischen Jesuiten haben nach dem Krieg die Betreuung des Wallfahrtsortes von den deutsch-ermländischen Jesuiten übernommen, die nach der Auflösung des Ordens Ende des 18. Jh. erst 1932 dorthin zurückgekehrt waren. Unterhalten kann diese Kirche nur werden, weil die vielen, vor allem auch deutschen Touristen großzügig Spenden an der Kirchentür hinterlassen, wenn sie zuvor das Orgelspiel bestaunen durften. Dass es sich um heimatwehe Touristen und nicht um Pilger handelt, wird überdeutlich, wenn eine Reisegruppe älterer Herrschaften statt in der Kirche fromme Lieder vor der Kirche altes teutsches Liedgut singt. Angeschlossen an das ÑKloster" ist ein Exerzitienhaus,
in das ich sehr freundlich aufgenommen werde und zwei Nächte
bleibe.
In der Nähe von KÍtrzyn (Rastenburg) liegt im Wald ein überaus groteskes Stück deutscher Geschichte im Osten: Das Führerhauptquartier ÑWolfsschanze" - oder was nach dem Versuch der Sprengung beim Rückzug davon übrig geblieben ist. Hier kann man eindrucksvoll studieren, in welcher Geisteshaltung der GröFaZ die meiste Zeit während der Kriegsjahre gelebt hat: Unter und hinter nicht weniger als 8 Meter dickem Beton hatte Hitler sein Kämmerlein, von dem aus er sein Volk dem Endsieg entgegenführte. Man weiß nicht, ob man weinen oder lachen soll, wenn am Eingang zu diesem Bunker immer noch der Fußabstreifer erkennbar ist. Der einzige Lichtblick in dieser Trümmerlandschaft ist ein bescheidenes Denkmal für Graf Stauffenberg und die anderen vom 17. Juli. In KÍtrzyn gehe ich mit Hilfe des örtlichen Radhändlers
noch das Problem an, dass meine linke Pedalkurbel ausleiert.
Gemeinsam feilen wir eine Unterlegscheibe zurecht, die ihren
Dienst ganz zuverlässig erfüllt.
Ohne Hast verabschiede ich mich vom lieblichen Heiligelinde.
Immer noch ist das Wetter herrlich, auch wenn es seit gut zwei
Tagen vom spätsommerlichen ins herbstliche umgeschlagen
hat und es unter dem hartnäckigen Frühnebel empfindlich
kalt sein kann. Die Landschaft ist ganz anders als im Süden
oder Osten. Reiche, große Bauernhöfe; alleengesäumte
Straßen, die sich über die Hügel ziehen; auch
kleinere Städtchen zeugen von einem einst wohlhabenden Bürgertum,
das sich ganz anders als in den in der Zeit der Teilung von Russland
oder Österreich okkupierten Gebieten auch mehrstöckige
Häuser aus Stein leisten konnte. Nahezu ohne Vergleich in
Deutschland sind die zahlreichen in Backstein gebauten Kirchen
aus dem 14. Jahrhundert und ganz unvergleichlich die machtvollen
(eigentlich nicht wirklich schönen) profanen Wehrbauten
aus gleicher Zeit. Der ohnehin nur bescheidene Tourismus beschränkt
sich fast ausschließlich auf hier geborene Deutsche, mithin
recht alte Leute, und wird entsprechend bald zum Erliegen kommen,
wenn sich nichts tut. Hoffentlich gelingt es den Polen, hier
einen sanften Tourismus aufzubauen, der die Landschaft zugänglich
macht, ohne sie zu zerstören. Versuchungen pflegen ihren Preis zu fordern. Diesen hat man
üblicherweise allerdings erst nachträglich zu entrichten,
weswegen man ihn, der Versuchung nachgebend, ja auch konsequent
ignoriert. Die spezielle Versuchung hingegen, die mich in diesen
Tagen geplagt hat, unterscheidet sich darin, dass der Preis im
vorhinein zu entrichten wäre. Nun fahre ich die ganze Zeit
bereits an den verschiedensten Grenzen entlang: zunächst
der ukrainischen, dann der weißrussischen und litauischen.
Jetzt bin ich ganz nahe an der Linie, die das ab 1945 von der
Sowjetunion verwaltete Gebiet Ostpreußens vom polnischen
getrennt hat, das Gebiet also, das jetzt als Enklave zur russischen
Förderation gehört: das Gebiet um Königsberg.
Nur 38 km vom jetzigen Grenzübergang hat Immanuel K. die
Kritik der reinen Vernunft ersonnen. Man stelle sich den erhebenden
Schauer des philosophisch gebildeten Verstandes vor! Als ich,
ganz nebenbei, in Heiligelinde von meinen Gelüsten dorthin
zu fahren gesprochen hatte, haben sie dort bedenklich mit dem
Kopf gewackelt oder die Hände über selbigem zusammengeschlagen
ob der Gefahren, derer ich mich damit aussetzen würde. Da
aber jedermann diese Gefahren nur wage und im Allgemeinen zu
benennen wusste und keiner der Bedenkenträger je dort war,
hat mich das mäßig geschreckt und habe ich auf alle
Vorhaltungen nur heuchlerisch die Stirn in Falten gelegt und
Ñtak, tak" oder Ñno, no" gemurmelt, was
beides Zustimmung suggeriert. Hinter jener Stirn aber lasse ich
mir weiter genussvoll die Ausflugsgedanken durch den Sinn gehen.
Nur die praktische Seite des Planes blieb dunkel: kommt man über
die Grenze und wie? Nur um diese Information einzuholen, wollte
ich nun denn doch nicht den Weg dorthin machen. Daher habe ich
noch in Heiligelinde jeden Deutschen Busfahrer gefragt, allerdings
nur in dieser Frage Unkundige getroffen. Erst in Reszel finde
ich einen Polen, der mir Auskunft geben kann über eben jenen
im vorhinein zu entrichtenden Preis, der mich die Versuchung
schnell überwinden läßt: an die hundert Mark
muß man pro Person für ein Visum hinblättern,
bisschen viel um Ñmal eben" hinzufahren. Nun werden
die von den Mitbrüdern beschworenen habgierigen russischen
Straßenräuber leer ausgehen, weil ihr Staat schon
an der Grenze zu habgierig war. So fahre ich denn direkt nach Westen, an diesem Samstag aber
nur noch ein kleines Stück bis zum Wallfahrtsort Stoczek
(Springborn), ein früher von deutschen Franziskanern, seit
1957 von polnischen Maristen betreutes Marien-Heiligtum. Dort
gibt es Dutzende von Betten für Pilger und mich als an diesem
Abend einzigen, aber sehr freundlich aufgenommenen Gast.
Jetzt bin ich ganz im schon zu deutschen Zeiten katholischen
Ermland. Ein ruhiger Fahrttag führt Richtung Westen bei
schönem Wetter und einem Wind, der allgemein eher im Rücken
liegt. Vom nahen Meer ist noch nichts zu riechen oder zu sehen.
Wieder viele gotische Kirchen in den Dörfern. Auf manchem
Kirchhof hat man einzelne Gräber von Deutschen erhalten
und gepflegt; einmal sehe ich sogar eine erhaltene Gedenktafel,
die der Ñgefallenen Helden im Weltkriege 1914-18"
gedenkt. In PieniÍøno mache ich Mittagsrast und koche
mir ein leckeres Süppchen aus getrockneten Waldpilzen und
Couscous. Wie fast immer bekomme ich bald Gesellschaft von einem
angetrunkenen Zeitgenossen. Den großzügig angebotenen
Kirschwein (nur zwei Mark die Flasche!) lehne ich höflich
ab. Unübersehbar ist der Alkoholismus eines der großen
sozialen Probleme in Polen. Durch ihn wird so mancher in den
Teufelskreis der Armut geführt und bleibt darin gefangen.
Ob die abenteuerliche Behauptung eines alten Paters aus Heiligelinde
stimmt, weiß ich nicht; er meint schon das zaristische
Russland aber auch die Sowjets hätten gezielt jede Bekämpfung
des Alkoholismus hintertrieben und den Verkauf gefördert,
um sich das Volk gefügig zu halten. Das Problem ist - zumal
in den Dörfern - so allgegenwärtig, dass eine Entwicklung
des ländlichen Raumes daran wohl nicht vorbeikommt. Die
Kirche engagiert sich sehr und versucht durch Abstinenzzeiten
und freiwillige Abstinenzgruppen Problembewusstsein zu schaffen.
Der bestdenkbare Erfolg dieser Bemühungen ist aber wohl
nur, wenigstens einige jüngere Leute vom Weg in den Alkoholismus
abzuhalten. Weder wird so aber eine gesunde Alkohol-Kultur gefördert,
noch ist den Abhängigen geholfen. Wirkliche Erfolge werden
wohl nur ganz lokal möglich sein, wenn man Abhängigen
Lebensperspektiven gibt und sie durch gemeinsame Anstrengungen
der ganzen Gemeinde zu einem geordneten Leben führt. Teure
Entziehungskuren sind auf jeden Fall nicht drin und würden
auch nicht viel helfen.
Zu meiner Überraschung finde ich in Braniewo das Mutterhaus
der Katharinenschwestern, die ich immer in Münster in Westfalen
zuhaus glaubte. Da lag ich falsch. Regina Portmann hat schon
1571 das damals revolutionäre Hilfswerk für Arme und
Kranke begonnen, damals in ihrer Heimatstadt Braunsberg, übrigens
von den dortigen Jesuiten freundschaftlich gefördert. Bei
der Vertreibung 1945 konnten einige Dutzend Schwestern im Lande
bleiben und haben den Orden dort sehr lebendig weitergeführt.
Selbst der liturgische Gesang von Braniewo gehört zu dem
schönsten, was ich je gehört habe. Am Ortsausgang von Braniewo ist ein großer und diesmal
ungewöhnlich gut gehaltener sowjetischer Soldatenfriedhof.
Bis in jüngste Zeit wurden auf einigen der an die tausend
anonymen Gräber nachträglich Namensplatten angebracht.
Daran kann man etwas die Internationalität der Roten Armee
ablesen, wenn sich Vornamen wie Enrique, Baltruseitis und Oskars
finden. - Die große gotische Anlage auf dem Domhügel
von Frombork finde ich eigentlich viel schöner und beeindruckender,
als die um ein vielfaches größere Marienburg (Malbork),
jenes Monument des Deutschen Ordens im Kampf um die ÑChristianisierung"
der Pruzzen und anderer Völker des Baltikums. Wahrscheinlich
gibt es in ganz Europa aus der Gotik nichts mit dieser riesigen
und wuchtigen Anlage vergleichbares. Ganz besonderes Lob hier
wie vielerorts den Polen, die mit unendlicher Mühe diese
Burg nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges wieder
aufgebaut haben.
Statt auf direktem Weg nach Danzig, mache ich noch einmal
einen Bogen nach Süden, um Pelplin zu besuchen. Die dortige
Kathedrale wäre den Umweg wohl auch wert gewesen, wenn sie
nicht tagsüber geschlossen wäre. Der Ärger darüber
wird nicht gerade gemildert dadurch, dass auf der Straße
von dort nach Danzig der Verkehr sehr unangenehm dicht ist, obwohl
ich eigentlich dachte, auf einer Nebenstrecke zu sein.
In Danzig selbst bin ich zwei Tage geblieben und habe die Stadt bewundert. Was für ein Wille, das Zerstörungswerk des Krieges zu überwinden, steckt hinter der grandiosen Aufbau- und Renovationsarbeit der Polen. Während in Deutschland munter abgerissen wurde, was der Krieg noch hinterlassen hatte, haben die Polen unter schwierigsten Bedingungen wahre Wunder geschaffen. Dahinter steckt die wohl richtige Überzeugung, dass man nur so den Kriegsherren die Definitionsgewalt über die Zukunft entreißen kann. Da ich bis zum Kursbeginn in JastrzÍbia Góra
noch eine Woche Zeit habe, kann ich den Plan verwirklichen, die
Nachbarn auf der anderen Seite der Baltischen See zu besuchen.
In Stockholm ist an diesem Samstag die Priesterweihe eines Mitbruders.
Da die skandinavischen Länder zur selben Ordensprovinz gehören
wie Norddeutschland, kenne ich fast alle Jesuiten von dort, auch
wenn ich jetzt zum ersten Mal dorthin komme. Die Schilderung
dieses Ausflugs will ich aber weglassen, um des Lesers Geduld,
sollte er bis hierher gekommen sein, nicht über Gebühr
zu strapazieren. Vom Fährhafen in Schweden bis Stockholm
sind es noch einmal 70 km. Nur das sei gesagt: nach der ersten
Stunde auf dem Rad in Schweden habe ich ernsthaft überlegt,
laut zu schreien und schleunigst nach Polen zurückzukehren:
so viel Sauberkeit und Ordnung, so überaus freundliche und
wohlerzogene Menschen sind gar unerträglich. Man sollte
sich solchen Kulturschocks nicht zu häufig aussetzen.
Nach der Rückkehr fahre ich vom Fährhafen im Norden
Danzigs einige Kilometer weit nach Gdingen. Die Stadt allein
wäre es nicht wert. Sie wurde nach dem ersten Weltkrieg,
als Danzig dem Völkerbund unterstellt worden war, als Hafenstadt
für Polen gegründet. Entsprechend wenig hat die Stadt
- trotz ihrer Viertelmillion Einwohner - zu bieten.
Den Tag in Gdynia bringe ich mit Stadtbummel zu. Ein Museum
für Meereskunde ist zwar alles andere als herausragend.
Da ich aber seit Kindertagen nicht mehr in einem Aquarium-Zoo
war, doch ganz interessant. Außerdem ist Gdynia von meinem
künftigen Wohnort die nächstgelegene größere
Stadt.
Womit wir am Ende der Reise sind. Von Danzig aus liegt JastrzÍbia
Góra etwa 80 km weiter nördlich; eine Richtung, die
nur verwundert, wenn man nicht bedenkt, dass Danzig unten in
der gleichnamigen Bucht liegt und sich von dort aus die Küste
nach Norden bis zu dem Punkt zieht, wo die lange, nur wenige
hundert Meter breite Halbinsel Hel auf das Festland stößt.
Hier, in Rozewie, das schon zu JastrzÍbia Góra
gehört, zu Füßen des Leuchturms am nördlichsten
Punkt von Polen, beende ich feierlich mit einem kühlen Schluck
frischen, guten polnischen Bieres eine spätsommerliche Tour,
die ich dank besten Wetters und freundlicher Menschen in guter
Erinnerung behalten werde. |
Author: Martin Löwenstein SJ